»Es ist böswillig, die Parole bewusst falsch zu verstehen« (2024)

»Es ist böswillig, die Parole bewusst falsch zu verstehen« (1)

In der Likud-Satzung von 1977 heißt es betreffend »Judäa und Samaria«, dass »zwischen dem Meer und dem Jordan« nur Israel herrschen möge. Welche Gebiete sind hier gemeint?

Die biblischen Begriffe bezeichnen das seit 1967 von Israel besetzte Westjordanland. Die Besatzung dieser und anderer palästinensischer Gebiete durch Israel wird regelmäßig international verurteilt, auch von der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Formulierung geht der Likud sogar einen Schritt weiter als Besatzung und will Annexion.

Die rechte Regierungspartei ignoriert damit auch die UN-Resolution vom 22. November 1967, wonach auch Palästinenser innerhalb anerkannter Grenzen frei von Androhungen oder Akten der Gewalt in Frieden leben dürfen?

Es ist nicht nur ein Verstoß gegen die UN-Resolution 242 und zahlreiche weitere, sondern auch ein Verstoß gegen das völkerrechtlich verankerte Annexionsverbot und gegen das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Israel herrscht jedoch bereits auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästina und hat dort ein Apartheid-Regime errichtet. Dazu gibt es etliche Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Al Haq, Al Mezan, B’Tselem, Human Rights Watch, Amnesty International und vielen mehr.

Interview

»Es ist böswillig, die Parole bewusst falsch zu verstehen« (2)

Nadija Samour

Die deutsch-palästinensische Rechtsanwältin Nadija Samour ist auf internationales Strafrecht und Kriminologie spezialisiert und war am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag tätig. In Berlin bearbeitet Samour Mandate im Polizei- und Versammlungsrecht sowie im Einbürgerungsrecht. Sie ist Mitglied der Rechtsanwaltskammer Berlin, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins RAV sowie der Roten Hilfe, außerdem war sie Vorstandsmitglied des Migrationsrats Berlins. Samour setzt sich für die Abschaffung von Gefängnissen ein, in Palästina steht sie dazu im Austausch mit der Menschenrechtsorganisation Addameer in Ramallah, die auch Gefangene unterstützt.

Schon die bis 1948 bestehende jüdische paramilitärische Untergrundorganisation Irgun wollte im britischen Mandatsgebiet Palästina einen jüdischen Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer errichten

Die Irgun war eine zionistische Terrororganisation, die unter anderem die Verantwortung für das Massaker in Deir Yassin trägt, bei dem 1948 über hundert Palästinenser*innen ermordet wurden und der Rest der Bevölkerung vertrieben wurde. Deir Yassin gilt heute in der Erinnerung aller Palästinenser*innen als das Symbol der zionistischen Gräueltaten im Zuge der Nakba. Das zionistische Projekt »From the river to the sea« ist mit der Staatsgründung Israels inzwischen Realität. Die Fortsetzung der Parole mit »… Palestine will be free« kann deshalb als eine Reaktion darauf verstanden werden.

Der Ursprung der Parole wird der damaligen Befreiungsbewegung PLO zugeordnet. Was sollte damit ausgedrückt werden?

Auf Arabisch heißt es »Vom Wasser zum Wasser«, davon gibt es zahlreiche Variationen, wie etwa »Freiheit« oder »Palästina ist Arabisch«. Ich finde es schwierig, einen einzigen Ursprung und nur eine Definition der Parole auszumachen. Eine Parole ist außerdem meist eine griffige Verkürzung, die in dynamischen Situationen wie Demonstrationen verwendet wird. Fest steht aus meiner Sicht, dass »From the river to the sea, Palestine will be free« aus einem antikolonialen Befreiungskontext stammt, und der hat in Palästina in den 1960ern mit der Gründung der PLO Aufwind bekommen.

Was meint die Parole aus Ihrer Sicht, wenn sie heute gerufen wird?

Zum Beispiel, dass das historische Palästina in irgendeiner Zukunft, vielleicht auch in einer Utopie, frei sein wird von Unterdrückung; sei es von zionistischer, siedlungskolonialistischer oder auch imperialistischer Gewalt, wie wir sie seit fast 100 Jahren in der Region von europäischen Großmächten und israelischen Siedler*innen erleben. Oder auch frei von anderen Gewaltverhältnissen, wie Kapitalismus und Patriarchat. Das sage ich bewusst. Denn auch wenn der israelische siedlungskolonialistische Apartheid-Staat der massivste Eingriff in das Leben der dort lebenden Menschen ist, so muss auch klar sein, dass »frei sein« nicht schon dann herrscht, wenn dieses System überwunden ist. »Freiheit« meint zudem alle Menschen, die auf dem Gebiet des historischen Palästinas leben.

In Deutschland wird die Parole von Politik und Justiz gern so interpretiert, als dass diese Freiheit nur ohne die dort lebende jüdische Bevölkerung erreicht werden soll

Das Gegenteil ist der Fall: Die palästinensische Befreiungsbewegung hat immer betont, dass jüdische Menschen schon immer Teil der lokalen Geschichte, Kultur, und Zukunft waren. Abgelehnt wird ausdrücklich ein politisches, ökonomisches und soziales System, in dem die Existenz der indigenen Bevölkerung Palästinas gegen die Existenz der Siedler*innen gestellt wird. Übrigens: auch antizionistische Jüd*innen und Israelis verwenden die Parole. Sie drücken mit »From the river to the sea, Palestine will be free« ebenfalls den Wunsch aus, auf dem Gebiet des historischen Palästina frei zu sein und ohne Gewalt leben zu wollen, die auf Kosten der Palästinenser*innen geht.

Jetzt ordnet das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser die Parole als Kennzeichen von Hamas und Samidoun ein und hat sie deshalb – wie auch die beiden Organisationen – verboten. Wie bewerten Sie das?

Das ist ein klarer Verstoß gegen Art. 5 GG, die Meinungsäußerungsfreiheit. Es ist schlicht böswillig, die Parole bewusst falsch zu verstehen, als wäre sie ein Gewaltaufruf gegen Jüd*innen. Dass Faeser und andere Politiker*innen die Parole mit Hamas oder Samidoun in Verbindung bringen – zwei Organisationen, die nun verboten sind – ist der rechtliche Umweg, um diese kriminalisieren zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Art. 5 GG und sogenannten Äußerungsdelikten festgestellt, dass, wenn eine Aussage mehrere Interpretationen zulässt, man jene wählen muss, die für die Angeklagten am freundlichsten ist. Das hat übrigens auch kurz vor dem 7. Oktober das Verwaltungsgericht Berlin in einem Urteil so gesehen.

Faeser hebelt diesen Grundrechtsschutz nun aus

Das erfolgt mit dem Strafrecht: Die Paragrafen 86 und 86a StGB und das Vereinsgesetz verbieten es, Parolen von verbotenen Organisationen zu verwenden. Dies wird zur Bekämpfung einer legitimen Meinungsäußerung eingesetzt – und das nimmt absurde Züge an. In Berlin werden bei Demonstrationen inzwischen sogar Plakate beschlagnahmt, auf denen »From the river to the sea, we want equality« steht. Ich bin mir sicher, dass alle diese Strafverfahren später eingestellt werden – oder spätestens das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird, dass die Kriminalisierung grundgesetzwidrig ist. Aber bis dahin werden die Menschen eingeschüchtert und mit kostspieligen und nervenaufreibenden Gerichtsverfahren überzogen. In einigen Fällen am schlimmsten: Die Betroffenen müssen mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen rechnen, ohne dass sie eine Straftat begangen hätten.

Auch die Staatsanwaltschaften in Berlin, München, Saarbrücken und Jena sehen die Parole seit Kurzem als strafwürdig an. Gibt es Erfahrungen, wie dies verfolgt wird?

Die Entscheidungen der Staatsanwaltschaften sind politisch motiviert. Da die Situation relativ neu ist, ist es schwer, wie genau die Ahndung aussehen wird, also ob etwa Volksverhetzung angenommen wird oder das Verwenden verbotener Kennzeichen. Ich gehe aber davon aus, dass die Verfahren in Einstellungen oder Freisprüchen enden werden.

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